„Ausgemergelt – ein Postskriptum zu ‚Mit Droste im Glashaus‘“
„Ausgemergelt“ – Annette von Droste Hülshoffs „Die Mergelgrube“, Marion Poschmanns „Die Mergelgrenze“ und Christoph Otto Hetzels Skulpturenreihe „Le Mur de L’Atlantique: Vergangenheitsspuren –
Bunkerfundstücke“ im Dialog
Rita Morrien/Universität Paderborn
Kurzvortrag, gehalten am 05.05.2024 anlässlich der dialogischen Droste-Poschmann-Lesung von Carolin Wirth und Carsten Bender im Rahmen der Werkschau Christoph Otto Hetzels (03.05. bis 26.05.2024,
Ausstellungshalle Hawerkamp 31). Die Veranstaltung wurde durch das Droste Forum e.V. großzügig unterstützt. Vielen Dank!
Ein Gedankenspiel: Hätte Annette von Droste-Hülshoff rund 180 Jahre später oder – umgekehrt auf dem Zeitstrahl – Christoph Otto Hetzel 180 Jahre früher gelebt, wären sie sich vielleicht bei einem
Streifzug durch das Münsterland begegnet. Womöglich hätten sie sich in einem Steinbruch oder einer Mergelgrube getroffen, gemeinsam auf Steine geklopft und sich gegenseitig ihre Fundstücke
gezeigt: Skurrile Gesteinsformationen, Fossilien und andere Kostbarkeiten, die nur den aufmerksam Schauenden und den Tiefschürfenden ins Auge fallen. Annette von Droste-Hülshoff war eine
scharfsinnige Beobachterin ihrer Zeit und ihrer kulturellen wie natürlichen Umwelt. Sie war eine naturaffine Sammlerin und Archivistin. Ihre Naturbeobachtungen haben Eingang in zahlreiche ihrer
Gedichte gefunden, darunter auch in die 1842 entstandene „Mergelgrube“, die Sie gleich in der Interpretation von Carolin Wirth und Carsten Bender hören werden. Wenn Sie sich auf dieses Gedicht
mental einlassen, begeben Sie sich auf eine abenteuerliche Reise durch Zeit und Raum, eine Reise mit vielen unterschiedlichen Bildern und Stimmungslagen. Ganz physisch, haptisch und visuell,
tauchen Sie mit der Ich-Instanz in die Gesteinswelt der Mergelgrube hinab:
Stoß deinen Scheit drei Spannen in den Sand,
Gesteine siehst du aus dem Schnitte ragen.
Blau, gelb, zinnoberrot, als ob zur Gant
Natur die Trödelbude aufgeschlagen.
Zu Beginn des Gedichts trifft der Blick der Ich-Instanz auf ein bunt schillerndes Farbenspiel, auf ein faszinierendes Spektrum an Naturerscheinungen, die von Kraft und archaischer Gewalt
zeugen:
Gesprenkelte Porphyre, groß und klein,
Die Ockerdruse und der Feuerstein –
Nur wenige hat dieser Grund gezeugt,
Der sah den Strand und der des Berges Kuppe;
Die zorn‘ge Welle hat sie hergescheucht,
„[E]ine fremde, üppige Natur“ tut sich vor unserem geistigen Auge auf. Naturdynamiken werden evoziert, die sich unserer Vorstellungskraft fast entziehen und angesichts derer der Mensch klein und
unbedeutend erscheint. Im Mittelteil des Gedichts wird es dann sehr düster, weil das lyrische Ich in eine fast postkatastrophisch anmutende tote Gesteinswelt hinabsteigt und sich dort beim
Anblick des „graue[n] Mergel[s]“ und der ‚verwaisten Findlinge‘ zu verlieren droht:
[…] die Natur
Schien mir verödet, und ein Bild entstand
Von einer Erde, mürbe ausgebrannt;
Ich selber schien ein Funken mir, der doch
Erzittert in der toten Asche noch
Ein Findling im zerfall’nen Weltenbau.
Den stimmungsmäßig wieder ganz anderen Abschluss des Gedichts bildet die Begegnung mit einem strickenden Schäfer, dessen Wollknäuel in die Grube gerollt ist. Dieses Wollknäuel weist dem
desorientierten Ich den Weg buchstäblich zurück an die Oberfläche. Dort entspinnt sich noch ein kurzer Disput über die Entstehung der Welt, bei dem unterschiedliche Wissenssysteme, nämlich der
naive Bibelglaube des Schäfers und die den neuesten Wissensstand repräsentierende erdgeschichtliche Expertise des Ichs auf humorige, durchaus auch selbstironische Weise kollidieren.
An die – ich zitiere Peter Schnyder (S. 244) – “endzeitliche[n] Visionen einer fundamental disharmonischen Welt“, die den Mittelteil des Gedichts dominieren, knüpft Marion Poschmann in ihrer
aktualisierenden Weiterschrift der „Mergelgrube“ an. Poschmann hat ihr Gedicht „Die Mergelgrenze“ eigens für den von Jochen Grywatsch initiierten, 2021 eröffneten Droste-Lyrikweg geschrieben.
„Die Mergelgrenze“ setzt mit dem Hinweis ein, dass der schon bei Droste als fragil gezeichnete Naturraum weitgehend zerstört ist und die Erde tatsächlich ihrem Ende entgegenvegetiert. Poschmanns
Gedicht ist komplett in einem urbanen Raum angesiedelt, der weitgehend durch Stahl, Beton und Klinker versiegelt ist und sich als riesiges Grabmal vor unserem geistigen Auge auftürmt. Der
enthusiastische Naturforscher, den wir in Drostes „Die Mergelgrube“ antreffen, wird in der „Mergelgrenze“ durch einen Bauarbeiter ersetzt, der mit einer provozierenden Indifferenz an der
Verbrennung natürlicher Ressourcen – und damit seiner eigenen Lebensgrundlagen – aktiv beteiligt ist:
Ich rührte Bauzement, ich schüttete
aus einem bleichen Sack mit roten Streifen
das feine Pulver in den Plastikeimer,
ich rührte Anmachwasser, Zuschlagstoffe,
ich betonierte Flächen, Körper, Räume […]
Weltweit. Noch mehr.
Schon Annette von Droste-Hülshoff zeigt sich in ihren Texten stark sensibilisiert für die vom Menschen ausgehenden Gefährdungen der Natur. Rund 180 Jahre später konfrontiert Marion Poschmann uns
mit einer ‚Naturlyrik‘, die nicht mehr Naturwahrnehmung und -beschreibung ist, sondern Evokation des Abwesenden (Poschmann: „Energie der Störung“, S. 14). Die Findlinge und Fundstücke, von denen
bei Droste die Rede ist, können in Poschmanns „Mergelgrenze“ mit dem bloßen Auge nicht mehr gesehen werden, weil sie nur noch als mikroskopisch zerkleinerte fossile Spuren vergangener Arten
existieren – für alle Zeiten unter Stahl und Betonmassen begraben. Der Mensch verwandelt den Planeten in ein riesiges Mausoleum, mit seinem ungehemmten Drang nach Wachstum und Expansion
versiegelt er Stück für die Stück die Quellen des Lebens:
Auf meinem Testzement ist unbedacht
ein Hund gelaufen und hat Pfotenspuren
dort hinterlassen […] Noch einmal
ist jetzt der Abdruck eines Lebewesens
in der Mixtur aus Meeresgrund und Sand
verewigt. Ein Fossil? Ein Testament?
Was hat nun Christoph Otto Hetzels aktuelles Projekt „Le Mur de l’Atlantique: Vergangenheitsspuren – Bunkerfundstücke“ mit den beiden kurz vorgestellten Gedichten zu tun? Auf den ersten Blick
fällt auf, dass Christoph Otto Hetzel sehr gerne mit Sandstein (insbesondere dem hiesigen Baumberger Sandstein, der auch für Droste-Hülshoff eine Quelle der Inspiration war) arbeitet. Der zweite
Blick offenbart, dass auch er ein Sammler und Archivist ist. Während er bis vor einigen Jahren vor allem Fundstücke aus der Region verarbeitete, hat sich sein Fokus mit dem 2017 begonnenen
Projekt „Le Mur de l’Atlantique: Vergangenheitsspuren – Bunkerfundstücke“ etwas verschoben oder besser gesagt, erweitert. Im Rahmen dieses Projekts verarbeitet und vermengt er sowohl natürliche
Materialien wie Muscheln, Steine und Schwemmholz als auch künstliche Materialien wie Beton und Stahl. Das verbindende Element dabei ist der Umstand, dass es sich vor allem um Fundstücke handelt,
auf die er während diverser Reisen in die Normandie in oder im Umfeld von Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg gestoßen ist. Diese Bunker stehen als langsam verwitternde, Erosion und Überwucherungen
ausgelieferte Relikte der Vergangenheit direkt am Strand der Atlantikküste: Seltsame Findlinge aus einer anderen (spätestens mit dem Ukraine-Krieg aber wieder näher gerückten) Zeit. Sie wirken
deplatziert, unheimlich, trutzig und zugleich fragil, weil sich in ihre Betonwände Algen und Muscheln krallen, der stählerne Knochenbau vor sich hinrostet und rötliche Schlieren – wie Blutspuren
– aufweist. Christoph Otto Hetzel arbeitet also mit zufälligen Fundstücken aus dem Bunkerareal, die teils natürlicher und teils künstlicher Herkunft sind, sofern die Unterscheidung überhaupt noch
getroffen werden kann. Wie ein Bricoleur (dt.: Bastler) vermengt er diese Fundstücke – „Überreste von Ereignissen: […] Abfälle und Bruchstücke der Geschichte, fossile Zeugen der Geschichte eines
Individuums oder einer Gesellschaft“, wie es der französische Kulturanthropologe Claude Lévi-Strauss („Das wilde Denken“, S. 35) formuliert, der den Begriff der Bricolage kulturtheoretisch
geprägt hat. Christoph Otto Hetzel fügt an der einen oder anderen Stelle ein paar Farbakzente hinzu („Blau, gelb, zinnoberrot, als ob zur Gant/ Natur die Trödelbude aufgeschlagen“, so heißt es in
Drostes „Mergelgrube“) und schafft so ein unsystematisches, ja chaotisch erscheinendes Archiv. Ein Archiv, das einerseits Spuren der Geschichte konserviert (der Naturgeschichte wie der von
Menschen gemachten Geschichte) und andererseits – qua Vermengung und Transformation – schon auf etwas Neues verweist: auf hybride Gebilde und Anordnungen, vielleicht neue Formen der Koexistenz
von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten.
Der 2001 nach einem Autounfall verstorbene Schriftsteller W.G. Sebald bezeichnete die menschliche Spezies wiederholt als eine fatale „Aberration“ (Verirrung) in der Natur und die „ganze
Menschheitszivilisation […] als ein von Stunde zu Stunde intensiver werdendes Glosen, von dem niemand weiß, bis auf welchen Grad es zunehmen und wann es allmählich ersterben wird. Vorderhand
leuchten noch unsere Städte, greifen noch die Feuer um sich.“ („Die Ringe des Saturn“, S. 203) Marion Poschmanns endzeitliches Gedicht „Die Mergelgrenze“, in dem der Mensch seine eigenen
Lebensgrundlagen zubetoniert und verbrennt, scheint diesen zutiefst zivilisationspessimistischen Befund zu bestätigen. Im Mittelteil von Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht „Die Mergelgrube“
finden wir bereits einen düsteren Vorschein dieser Ahnung, können aber am Ende noch einmal mit dem lyrischen Ich aus der Grube klettern, die wir uns selbst gegraben haben. Christoph Otto Hetzel,
der Bricoleur und wilde Archivist natürlicher und künstlicher Fundstücke, zeigt uns mit seiner künstlerischen Arbeit, dass aus Relikten der Zerstörung (hier Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg) im
Zusammenspiel mit den Schätzen der Natur etwas Neues entstehen kann – was dieses Neue genau sein könnte, bleibt der Phantasie der Betrachtenden überlassen.
Postskriptum:
Bei der dialogischen Lesung kommt es zu einem Zwischenfall: Eine der Beteiligten berührt bei ihrem Auftritt ein Podest, auf dem eine Skulptur aus der Reihe „Le Mur de L’Atlantique: Spuren der
Geschichte – Bunkerfundstücke“ steht. Die Skulptur wankt einen Moment, stürzt dann herab auf den Betonboden und zerbricht mit einem lauten Knall ‚in tausend Stücke‘. Der Künstler reagiert
gelassen. Eine Besucherin kommentiert das Geschehen: „Das war das Ausrufezeichen zu den Gedichten und Ihrem Vortrag.“ Ein anderer Besucher verlässt nach Abschluss der Veranstaltung die
Ausstellungshalle, kehrt kurze Zeit später zurück und fügt den inzwischen auf dem Podest aufgeschichteten Trümmern der Skulptur ein weiteres Stück hinzu – ein Fundstück aus dem Außenareal der
alten Industriehalle, das leuchtend gelbe Spuren von Graffiti aufweist. „Das hat noch gefehlt“, kommentiert er. Keine geplante Performance, aber eine Performance.
Literaturverzeichnis:
Annette von Droste-Hülshoff (1842): „Die Mergelgrube“. In: Dies.: [Sammlung] Historisch-kritische Ausgabe (HKA): Werke – Briefwechsel. Bd. I. Hg. v. Winfried Woesler, S. 50–54.
Claude Lévi-Strauss (1962): Das wilde Denken. Frankfurt a. M. 1972.
Marion Poschmann (2021): „Die Mergelgrenze“. In: Droste-Landschaft: Lyrikweg. Wanderbuch. Hg. v. Jörg Albrecht u. a. Havixbeck: Burg Hülshoff – Center for Literature 2021, S. 104–106.
Marion Poschmann (2016): „Energie der Störung. Bemerkungen zu Naturbildern und Poesie“. In: Dies.: Mondbetrachtung in mondloser Nacht. Berlin 2016, S. 11–16.
Peter Schnyder (2018): [Art.] „Die Mergelgrenze“. In: Annette von Droste-Hülshoff. Handbuch. Hg. v. Cornelia Blasberg u. Jochen Grywatsch. Berlin/Boston 2018, S. 242–247.
W. G. Sebald (1995): Die Ringe des Saturn, 15. Aufl., Frankfurt a. M. 2020.
Mit der Veranstaltung „Ausgemergelt – ein Postskriptum zu ‚Mit Droste im Glashaus‘“, die am 5. Mai um 17 Uhr im Rahmen der Werkausstellung
des Bildhauers Christoph Otto Hetzel (3. bis 26. Mai 2025) stattfindet, knüpfen wir an die intermediale Ausrichtung der dreiteiligen Ausstellungsreihe „Mit Droste im Glashaus. 21 Künstlerinnen
und Künstler werfen Blicke“ an. Nach einem einführenden Kurzvortrag von Prof. Dr. Rita Morrien (Universität Paderborn) werden die Schauspieler:innen Carolin Wirth und Carsten Bender Annette von
Droste-Hülshoffs visionäres Gedicht „Die Mergelgrube“ (1842) und Marion Poschmanns endzeitliche Droste-Weiterschrift „Die Mergelgrenze“ (2021) rezitieren. Im Hintergrund wird gleichzeitig eine
Videoinstallation zu sehen sein, die Christoph Otto Hetzels langjährigen Bezug zu den Naturgedichten Droste-Hülshoffs visualisiert und Einblicke in sein aktuelles Normandie-Projekt
„Vergangenheitsspuren – Bunkerfundstücke“ gibt. Im Anschluss an die Lesung/Installation gibt es die Gelegenheit zum Gespräch mit den Schauspieler:innen und dem ‚wilden Archivisten‘ Christoph Otto
Hetzel.
Ort/Zeit: Ausstellungshalle des Kulturvereins Hawerkamp 31; 5. Mai 2024, 17 bis ca. 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Wir freuen uns über eine Spende.
In diesem Jahr finden zwei Rückblicke auf die intermediale Ausstellungsreihe "Mit Droste im Glashaus" an den Universitäten in Paderborn und Münster statt. Am 11.07.2023 werden die beiden
Ideengeber*innen Prof.in Dr.in Rita Morrien (Neuere Deutsche Literatur) und der Künstler Christoph Otto Hetzel im Rahmen der Paderborner Ringvorlesung „KW im Dialog – eine Anstiftung zum
transdisziplinären Gespräch“ über ihre Erfahrungen im Projekt „Mit Droste im Glashaus“ sprechen. An der Universität in Münster wird Christoph Otto Hetzel am 10.05.2023 unter dem Titel „Als
Autodidakt zum Bildhauer und Projektleiter einer Ausstellungsreihe“ als Vortragender der Reihe „Last Exit Kunst III“ (Studium im Alter) Einblicke in seine Arbeit geben.
Die Veranstaltung in Paderborn ist öffentlich, Interessierte sind herzlich eingeladen! https://kw.uni-paderborn.de/graduiertenzentrum-kw/ringvorlesung-kw-im-dialog
Intermediale Veranstaltungsreihe von September 2018 bis Oktober 2019
Kunstbaustellen des Projekts:
Schloss Senden (September – Oktober 2018 und Dezember 2018)
Baumberger-Sandstein-Museum Havixbeck (26. April – 2. Juni 2019)
Hawerkamp 31 Münster (23. August – 22. September 2019)
…und an ungewöhnlichen Orten wie dem Hörster Friedhof.
Unser Ausstellungskatalog "Scherbensammlung" ist im Daedalus-Verlag erschienen und kann im Buchhandel sowie beim Schloss Senden e.V. erworben werden.
Ein buntes Veranstaltungs-Programm begleitete die Ausstellungsreihe "Mit Droste im Glashaus" in Senden, Havixbeck und Münster. Impressionen finden Sie
hier.
Auf dem Schloss Senden, im Baumberger-Sandstein-Museum und am Hawerkamp 31 widmeten sich weit mehr als 21 Künstlerinnen und Künstler der Modernität Drostes.